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Künstliche Intelligenz entschlüsselt Vergangenheit – Wie das KI-System „Enoch“ die Qumran-Schriftrollen neu datiert
Wissenschaftler haben mit Hilfe einer speziellen KI namens Enoch herausgefunden, dass einige der bekannten Schriftrollen vom Toten Meer viel älter sind als bisher gedacht – manche stammen womöglich aus der Zeit, in der die Bibel gerade erst geschrieben wurde.
Zeitreise mit Algorithmen
Die Entdeckung der Qumran-Schriftrollen ab 1947 war eine archäologische Sensation. In Höhlen nahe dem Toten Meer fanden Forscher mehr als 900 Manuskripte, die das religiöse Leben des antiken Judentums dokumentieren – darunter einige der ältesten bekannten Bibeltexte. Doch bis heute blieb vieles über diese Fragmente im Dunkeln: Wer hat sie verfasst? Wann genau entstanden sie? Warum wurden sie versteckt?
Ein interdisziplinäres Forscherteam der Universität Groningen unter Leitung von Prof. Dr. Mladen Popović hat nun mit einer neu entwickelten Kombination aus Radiokarbondatierung und künstlicher Intelligenz eine bahnbrechende Methode vorgestellt, um diese Fragen zu beantworten. Das Herzstück dieser Innovation ist das KI-System „Enoch“, das anhand paläografischer Merkmale das Alter antiker Schriften bestimmt – mit einer bisher unerreichten Präzision.
Diese Entwicklung ist nicht nur ein technologischer Meilenstein, sondern auch von immenser kulturhistorischer Bedeutung: Einige Manuskripte lassen sich erstmals direkt in die Entstehungszeit biblischer Texte einordnen. Das verändert unser Verständnis der religiösen, sprachlichen und kulturellen Entwicklung der Antike.
Technische Analyse: KI, Radiokarbon und die Handschrift der Geschichte
Das KI-System Enoch kombiniert maschinelles Lernen mit traditioneller Radiokarbondatierung (C-14) und erreicht dabei eine neue Tiefe der Manuskriptanalyse. Ausgangspunkt ist die sogenannte Beschleuniger-Massenspektrometrie (AMS)– eine hochsensitive Methode zur Bestimmung des Kohlenstoff-14-Gehalts in organischem Material. Da C-14 im Lauf der Zeit zerfällt, lässt sich so das Alter der Manuskripte grob bestimmen.
Doch das Besondere an der Methode ist der zweite Schritt: Die KI Enoch wurde darauf trainiert, feinste Unterschiede im Schriftbild zu analysieren – Kurvenverlauf, Winkel, Schriftbreite oder Zeichenproportionen. Grundlage dafür sind multispektrale Bildaufnahmen, die mit einer spezialisierten binarisierten U-Net-Architektur (BiNet) verarbeitet wurden. Diese trennt die eigentliche Schrift von Hintergrundrauschen und Materialstruktur.
Die eigentliche Magie liegt in der Feature-Extraktion: Durch Verfahren wie die allographische Analyse(Gestaltungsvarianten einzelner Buchstaben) mittels Kohonen-Netzen und die sogenannte Hinge-Methode (lokale Krümmungsverteilung des Schriftzugs) erzeugt Enoch stilistische Vektoren, die Schriftcharakteristika quantifizieren – unabhängig vom semantischen Inhalt. Die resultierenden Daten dienen als Input für ein Bayesian Ridge Regression Model, das auf Grundlage probabilistischer Verteilungen der C-14-Daten präzise Altersschätzungen liefert – samt Unsicherheitsangaben.
Besonders bemerkenswert: Anstatt Deep Learning auf großen, themenfremden Korpora zu nutzen, wurde Enoch gezielt auf 24 handverlesenen, C-14-datierten Fragmenten trainiert. Dadurch bleibt die KI domänenspezifisch und transparent – ein entscheidender Vorteil für die wissenschaftliche Akzeptanz.
Anwendung und Nutzen: Zeitdetektiv für die Wissenschaft
Die möglichen Anwendungen dieser Methode sind vielfältig:
- Für Historiker und Theologen öffnet sich ein Fenster zur direkten Analyse biblischer Texttraditionen. Wenn ein Fragment wie 4Q114 aus dem Buch Daniel tatsächlich aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammt, könnte es in zeitlicher Nähe zur Niederschrift der letzten Kapitel entstanden sein. Dies erlaubt Rückschlüsse auf Redaktion, Theologie und Überlieferung.
- Für Archäologen und Paläografen stellt Enoch ein objektives Werkzeug zur Verfügung, um Handschriften zu datieren – unabhängig von subjektiven Einschätzungen oder lückenhaften Vergleichsdaten.
- Für Museen und Archive könnte das System in der Bestimmung und Kategorisierung bisher undatierter Texte Anwendung finden, insbesondere dort, wo physische Probenentnahme (wie für C-14) nicht möglich ist.
- Unternehmen im Bereich Kulturerbe-Digitalisierung könnten von Enoch als Referenztechnologie profitieren, etwa für die Analyse antiker Manuskripte, Inschriften oder auch mittelalterlicher Kodizes.
Herausforderungen bleiben natürlich bestehen: Die Methode setzt hochauflösende multispektrale Bilddaten voraus, ist rechenintensiv und verlangt einen sensiblen Umgang mit Trainingsdaten. Zudem ist ihre Anwendbarkeit aktuell auf bestimmte Schriftsysteme und Epochen begrenzt.
KI-Kategorien und Einordnung: Von Mustererkennung bis Bayes’scher Logik
Die Methode vereint mehrere Felder der KI-Forschung:
- Maschinelles Lernen (Supervised Learning): Enoch lernt aus bekannten (C-14-datierten) Schriftproben, um neue Fragmente zu datieren. Die Merkmalsvektoren fungieren dabei als Eingabedaten für Regressionsmodelle.
- Computer Vision: Die Vorverarbeitung der Schriftrollenbilder nutzt Bildanalyse und Segmentierung, um Handschriftzüge von Materialartefakten zu trennen – ein klassischer Anwendungsfall für CNN-basierte Architekturen wie BiNet.
- Bayesian Modeling: Durch bayessche Regressionsmodelle lassen sich Unsicherheiten im Datensatz explizit modellieren – ein essenzieller Fortschritt gegenüber rein deterministischen Verfahren.
- Paläografische Feature-Engineering: Durch die Trennung von allographischen (zeichenspezifischen) und texturalen (strukturellen) Merkmalen entsteht ein hochdifferenziertes Abbild der Schriftstile – unabhängig vom semantischen Kontext.
Insgesamt repräsentiert Enoch ein hybrides Modell zwischen erklärbarer KI und datengetriebenem maschinellem Lernen – eine Seltenheit im heutigen Hype um tiefes Lernen und Blackbox-Systeme.
Fazit und Ausblick: KI als Werkzeug historischer Erkenntnis
Mit der Entwicklung von Enoch hat die KI nicht nur einen weiteren spektakulären Anwendungsbereich erobert – sie leistet einen direkten Beitrag zur Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte. Die neu gewonnenen Datierungen der Qumran-Schriftrollen sind ein Meilenstein: Sie belegen, dass zentrale Texte wie Daniel oder Kohelet früher verfasst oder zumindest abgeschrieben wurden als bisher angenommen.
Die Technologie ist skalierbar: Zukünftig könnten ähnliche Systeme auf andere antike Korpora ausgeweitet werden – von ägyptischen Ostraka bis zu mittelalterlichen Manuskripten. Gleichzeitig öffnet die Verbindung aus datengetriebener Analyse und menschlicher Expertise neue Wege in den Digital Humanities.
Doch mehr noch: Enoch ist ein Beispiel dafür, wie KI nicht nur automatisiert, sondern auch interpretiert – und uns so hilft, das kulturelle Gedächtnis der Menschheit neu zu verstehen. In einer Zeit, in der digitale Technologien oft als Bedrohung für kulturelle Werte wahrgenommen werden, zeigt dieses Projekt: KI kann auch zur Bewahrerin historischer Wahrheit werden.
Einfache Zusammenfassung
Wissenschaftler haben mit Hilfe einer speziellen KI namens Enoch herausgefunden, dass einige der bekannten Schriftrollen vom Toten Meer viel älter sind als bisher gedacht – manche stammen womöglich aus der Zeit, in der die Bibel gerade erst geschrieben wurde. Die KI kann anhand der Handschrift auf den alten Schriftstücken erkennen, aus welcher Zeit sie stammen. Das funktioniert ähnlich wie bei einer Handschriftanalyse, nur viel genauer und schneller. Die Erkenntnisse helfen Forschern besser zu verstehen, wie und wann bestimmte biblische Texte entstanden sind. Das ist wichtig, um die Geschichte von Judentum und Christentum besser zu verstehen.
Quelle:
- https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0323185&utm_source=pr&utm_medium=email&utm_campaign=plos006
- https://www.scinexx.de/news/archaeologie/qumran-schriftrollen-sind-aelter-als-gedacht/?fbclid=IwY2xjawKySSRleHRuA2FlbQIxMQABHia_a7xXZR1Whprbk1UA4iE0iUqC7ww5fxho6pB4HGMnWbqtAKCXcXTC7nIf_aem_hkmaLJcAoZcGjc_i6VBfZA
- https://www.focus.de/wissen/antikes-mysterium-ki-macht-ueberraschende-entdeckung-in-qumran-schriften_e4ccd5a9-5083-4c81-a4b5-d18ae88eba21.html
- https://www.20min.ch/story/bibeltexte-ki-datiert-qumran-schriftrollen-neu-texte-aelter-als-gedacht-103359781